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Zum Nichtstun verdammt? Drei Projekte, die Flüchtlinge einbinden

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Als Fartun im Juli 2013 endlich ihr Zeugnis in den Händen hält, rollen die Tränen. Die junge Somalierin weiß, dass ihr das Papier die Türen in die deutsche Arbeitswelt öffnet – und damit auch in die deutsche Gesellschaft.

Der Hauptschulabschluss ist der erste allgemeine Schulabschluss in Deutschland. Damit erreichen Menschen die Berufsreife. Nun hat Fartun die Möglichkeit, sich ihren großen Traum zu erfüllen und eine Berufsausbildung zu machen. Krankenschwester würde sie gern werden oder Busfahrerin.

Für eine bessere Zukunft hat die heute 21-jährige Somalierin mit dem warmen Lachen einiges auf sich genommen. Nach dem gewaltsamen Tod ihres Vaters floh sie vor dem Terror der al-Shabaab-Milizen aus ihrer Heimat. Über Äthiopien und Griechenland erreichte sie im Jahr 2010 schließlich Deutschland, wo sie ein Schlepper am Münchener Hauptbahnhof ihrem Schicksal überließ. Sie war erst 16 und allein.

„Ich hatte Angst, konnte kein Wort Deutsch, ich wusste nicht wo ich hin sollte“. Doch Fartun hatte Glück – und war fleißig. In einer Unterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge lernte sie wie eine Besessene Deutsch.

Sie wollte nicht wie andere enden, die jahrelang in Deutschland lebten, ohne die Menschen zu verstehen. „Das machte mir Sorgen. Ich wusste, ohne die Sprache kann ich nichts aus meinem Leben machen. Das erste Jahr war hart. Oft habe ich abends geweint, weil ich keine Fortschritte sah“.

Wer nichts lernt, hat keine Chance

Doch dann bekam Fartun einen Platz an der Münchener Schlau-Schule. Sie ist speziell auf die Bedürfnisse junger Flüchtlinge zwischen 16 und 21 Jahren zugeschnitten. Jährlich machen dort 60 Schüler den von der bayerischen Regierung anerkannten Schulabschluss, eine Ausbildung oder gehen an weiterführende Schulen.

Die Erfolgsquote beim Hauptschulabschluss liegt laut den Verantwortlichen bei 97 Prozent. Speziell ausgebildete Lehrer und Sozialpädagogen vermitteln den jungen Menschen nicht nur Multiplikation und deutsche Grammatik. Sie unterstützen sie, wenn Traumata oder Zukunftsängste über ihnen hereinbrechen. Denn viele bringen schlimme Erlebnisse aus der Heimat mit.

Schätzungen der Schlau-Schule zufolge leben in München derzeit um die 2000 jugendliche Flüchtlinge, denen lediglich 450 verfügbare Schulplätze gegenüberstehen. Wer nichts lernt, hat keine Chance auf eine Job und damit keine Perspektive.

Zum Nichtstun verdammt

Das gilt besonders für die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge, die anders als Fartun, in Deutschland kein Asyl bekommen. Wer keinen sicheren Aufenthaltsstatus hat, bleibt meist trotzdem. Nicht nur die drohende Abschiebung belastet die Menschen dann. Sie leiden darunter, dass sie zum Nichtstun verdammt sind.

So dürfen sich Flüchtlinge mit „Duldung“ zwar offiziell in Deutschland aufhalten, sie sind aber mit strengen Auflagen konfrontiert. Die ersten drei Monate dürfen sie überhaupt nicht arbeiten. Danach können sie 15 Monate lang nur Jobs annehmen, für die kein deutscher oder europäischer Bewerber infrage kommt.

Auch für Maiga, der ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland lebt, ist es schwer einen Job zu kriegen. „Wir sind hierhergekommen, aber wir dürfen nicht bleiben, nicht arbeiten. Das verstehe ich nicht“, sagt der 36-Jährige ehemalige Busfahrer aus Mali, der mit einem Boot zunächst in Lampedusa landete. In Italien gab es keine Arbeit, also ging er nach Deutschland.

Flüchtlinge bauen Designer-Möbel

Maiga hatte Glück. In einem Protestcamp in Berlin lernte er die Initiatoren von Cucula kennen, einem Social Startup, das Flüchtlinge vom Nichtstun erlösen will. Weil sie nicht arbeiten dürfen, ermöglicht Cucula Maiga und vier weitere Flüchtlinge aus Westafrika die Teilnahme an einem Bildungsprogramm, bis sie eine Arbeitsgenehmigung bekommen.

In einer Werkstatt fertigen sie gemeinsam mit den Gründern hochwertige Möbelstücke nach dem Vorbild der italienischen Design-Ikone Enzo Mari. Aus dem Erlös sorgt Cucula für Unterkunft, Lebenshaltungskosten, Anwälte und Deutschunterricht.

Mit der Hilfe ihrer Schützlinge konnten die Berliner Sozialunternehmer bereits 350 Möbelstücke verkaufen, darunter Stühle, Bänke oder Tische. Bei einer Crowdfunding-Kampagne im vergangenen Winter sammelten sie in nur einem Monat 123.000 Euro ein, das Medienecho war gewaltig.

Das Engagement von Cucula finden nicht nur viele Bürger unterstützenwert. Inzwischen fordern auch Wirtschaftsvertreter, das Arbeitsverbot für Flüchtlinge zu lockern.

Fachkräfte dringend gesucht

Deutsche Unternehmen suchen seit Jahren händeringend nach Auszubildenden, vor allem Handwerksbetriebe. Schon 2014 waren 194.000 Lehrstellen kurz vor Ausbildungsbeginn in Deutschland nicht besetzt. Diese Lücke könnten die vielen Menschen aus Übersee füllen, die arbeiten wollen, aber nicht dürfen. Soziale Nachhaltigkeit sieht anders aus.

Entsprechend war der Zugang zum Jobmarkt das zentrale Thema bei einer Ministerpräsidentenkonferenz mit Kanzlerin Angela Merkel Ende Juni in Berlin.

Klar ist: Neben der Bürokratie sind vor allem fehlende Deutschkenntnisse die größten Beschäftigungs- und Integrationshürden für Flüchtlinge.

Wenn Flüchtlinge kicken

Wenn der Ball rollt, verstehen sich Menschen zum Glück auch ohne zu sprechen. Eine feine Technik, der tödliche Pass in die Tiefe und Teamgeist sind wichtiger.

buntkicktgut“, eine europaweit einzigartige Straßenfußball-Liga mit Sitz in München, hat das Integrationspotenzial von Sport entdeckt. Sie will Sprachlosigkeit mit Fußball überwinden.

Die Idee zu buntkicktgut entstand 1997 aus der Betreuung junger Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien und Asylbewerbern.

„Fußball war das einzige was sie kannten“, sagt einer der Mitinitiatoren. Heute spielen deutschlandweit Woche für Woche über 4000 Kinder in den interkulturellen Straßenfußball-Ligen von buntkicktgut in München, Berlin, Dortmund, Würzburg sowie Niederbayern. Und alle sind Gewinner.

Denn durch den Fußball kommen die jungen Sportler nicht nur mit anderen Münchner Kindern in Kontakt. Das Projekt beugt auch Gewaltkarrieren vor. Gerade junge Menschen, die vom Schicksal gebeutelt sind, bekommen bei buntkicktgut einen stabilen Rahmen und das Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören. Der Deutsche Fußballbund und der Bundespräsident haben das Projekt ausgezeichnet.

Auch Fartun hat eine Schwäche für Fußball. Im Hochsommer sprintet die gläubige Muslimin mit langem Shirt, Hose und Schleier über den Rasen. Sie hat inzwischen deutsche Freunde gefunden. Mit ihnen war sie auf der Zugspitze, dem höchsten Berg Deutschlands („der Aufstieg war wirklich hart“) und in Berlin, wo sie durch das Brandenburger Tor spazierte.

„In Geschichte haben wir den Kalten Krieg und den Bau der Mauer durchgenommen, ich habe sie in Berlin mit eigenen Augen gesehen“, freut sie sich. Angst hat Fartun nicht mehr. „Ich spreche die Sprache, kann überall hingehen, meine Probleme selbst lösen“.

Anderen Flüchtlingen rät sie daher, so schnell wie möglich Deutsch zu lernen. Einen Unterschied zwischen Deutschen und Somaliern sieht sie nicht. „Manche Menschen helfen Dir, manche nicht, egal in welchem Land.“

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