Sie sieht zum Anbeißen aus. Drall und fest. Keine Unebenheit stört ihren Teint. Die Haut der Spanierin duftet nach Andalusien. Endlich dürfen gierige Bisse in ihr Fleisch sinken, das rot leuchtet wie die Sünde…
Doch Moment. Was soll das? Die Südländerin schmeckt so aufregend wie ein Schluck Wasser.
Als aufgeklärter Verbraucher hätte man es wissen müssen. Im Frühjahr ist eben noch nicht Tomaten-Saison, auch nicht im Biouniversum. Die Tomate wurde grün geerntet und per Laster nach Deutschland geschickt. Auf die inneren Werte wie Geschmack haben ihre Züchter nicht geachtet. Sie sollte vor allem: Gut aussehen und billig sein.
Tomaten im Winter oder im Frühjahr. Für unsere Großeltern wäre das so normal gewesen, wie Weihnachten im Juli. Doch in Deutschlands Supermärkten wächst alles zu jeder Zeit: Erdbeeren aus Kalifornien und Äpfel aus Neuseeland, Bohnen und Kartoffeln aus Afrika. Das alles gibt es auch noch in Bio.
In Deutschlands Supermärkten
gibt es keine Jahreszeiten
Zwar kaufen Verbraucher heute bewusster ein, doch das reichhaltige Angebot und ein Wirrwarr an Siegeln und Produktslogans verunsichert viele.
Es stimmt zwar, dass Produkte, auf denen “Bio” steht, tatsächlich aus ökologischem Landbau stammen. Der Begriff ist genau wie “Öko” von der Europäischen Union geschützt.
Viele Verbraucher stellen sich dennoch die Frage: Was soll man kaufen, Bio oder konventionell? Und wie sieht es mit importierten Biowaren aus?
Mit Sicherheit sagen lässt sich: Nicht alles, was bio oder regional ist, tut auch automatisch dem Klima, den Menschen oder der Natur gut.
So werden Biotomaten im trockenen Spanien mit viel Energieaufwand bewässert oder regionales Obst wie der Bodensee-Apfel für den Konsum jenseits der Saison CO2-intensiv eingelagert und gekühlt.

Genau wie das Bio-Siegel der Europäischen Union (oben) garantiert das deutsche staatliche Bio-Siegel, das im September 2001 eingeführt wurde, Bioqualität. (Quelle: Wikimedia Commons)
Warum und wann lohnt sich also der Griff zum Bio-Produkt?
„Bio-Anbau verzichtet auf chemische Düngemittel, verbessert die Bodenqualität durch Humusaufbau und stärkt die Biodiversität“, sagt Joyce Moewius, Sprecherin des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW).
Klar wächst auch eine Banane mit dem gestrengen Demeter-Siegel nicht in Deutschland. Aber jeder Bio-Hektar in Costa Rica sei ein Hektar ohne chemische Pflanzenmittel, sagt Moewius. Auch bei Obst und Gemüse, das nun einmal nicht in Deutschland wachse, sei es deshalb umweltverträglicher, auf Bio zu setzen.
Dudeln aus dem Telefonhörer
Auch in punkto Transparenz scheinen Bioprodukte mit dem EU-Siegel oder von Anbauverbänden mit strengeren Anforderungen wie Demeter oder Naturland Vorzüge gegenüber konventionellen Lebensmitteln zu haben.
Das zumindest legen Versuche nahe, von konventionellen Erzeugern zu erfahren, woher sie etwa die Tomaten für ihre Fertigprodukte beziehen. Auf den Webseiten findet sich außer Werbesprech wenig an Informationen.
Aus dem Telefonhörer dudelt Warteschleifenmusik. Der Verbraucherservice von Lidl zum Beispiel findet erst auf mehrfache Nachfrage heraus, dass die Tomaten ihrer Hausmarken-Sauce „aus Europa“ kommen.
Will man wissen, wo die Tomaten wachsen, die im Kraft-Ketchup verarbeitet sind, landet man beim Lebensmittelriesen „Mondelez“. Der möchte aber keine Auskunft erteilen.
Weiter geht es mit Fertigsaucen von „Miracoli“, die mittlerweile „Mars“ produziert. Nach etlichen Anrufen teilt eine Sprecherin mit, man befinde sich in „einem Umstellungsprozess“. Sie könne nicht weiterhelfen, denn es gehe um „Geschäftsgeheimnisse“.
Ein Lidl-Hersteller erzählt
Endlich: Ein Hersteller, der für deutsche Discounter wie Lidl produziert, ist bereit, anonym zu sprechen. Weniger darüber, woher genau er seine Rohstoffe wie Tomaten bezieht. Aber er erzählt, wie er die Dinge sieht.
Er bietet neben konventioneller Massenware auch Bio an. Bio finde er gut, allerdings seien konventionelle Produkte auch nicht schlechter. “Wenn die Biopflanze an der Autobahn wächst, nimmt die doch über die Erde auch das Blei und das Kohlenmonoxid auf.”
Außerdem werde ihm zu viel kontrolliert. Man gehe ja auch nicht drei Mal in der Woche zu Arzt. “Das ist Totuntersuchung.” Außerdem trieben die Kontrollen die Preise.
“Ich werde mit Knüppeln bearbeitet”
Auf die Frage, ob er den Rohstoffproduzenten aus seiner Sicht faire Preise zahle, lacht er erst spöttisch und senkt dann die Stimme. „Ich kann nur den Preis abschließen, den der Handel zahlt. Ist der Handel fair mit mir, kann ich fair einkaufen. Aber ich werde mit Knüppeln bearbeitet, also muss ich den Druck weitergeben.“
Verträge mache er mit seinen Lieferanten immer nur für kurze Zeiträume – er bekomme ja auch nur Jahresverträge.
Transparenz honoriere der Kunde nicht. Es sei doch ein Volkssport geworden, auf Schnäppchenjagd zu gehen. „Wir haben genug Arbeitslose, Rentner und Singlehaushalte, die schauen müssen, wie sie über die Runden kommen. Die Masse guckt auf die Preise. Das sind nicht wir. Das ist der Kunde.“
Keine Geheimnisse bei Rapunzel
Andreas Wennings Kunden sind offenbar anders. Sie sind bereit mehr Geld zu bezahlen, wenn dafür die Anbaubedingungen fair sind und sie sicher sein können, dass ihre Pasta-Tomaten nicht aus China kommen.
Wenning ist Geschäftsführer der Firma „Rapunzel“, einer der größten Bio-Hersteller Europas. „Gentechnikfreie Zone“ steht auf dem Eingangsschild des Unternehmenssitzes in Legau im Allgäu. Andreas Wenning führt durch die Produktionsanlagen. Es riecht nach Nüssen. Gabelstapler schubsen Kartons in ein Lager. Schachteln mit Mandeln und Haselnüssen türmen sich in Regalen.
Wenning grüßt jeden Mitarbeiter beim Vornamen. Er lächelt oft, er redet schnell. Wenn er von seinen Olivenölen spricht, erinnert er an einen Buben, der sein neues ferngesteuertes Auto vorführt.
Ihm ist wichtig, seine Rohstofflieferanten persönlich zu kennen, ihre Welt zu verstehen. Die Frage, wo die Tomaten aus seiner Spaghettisauce herstammen, löst bei ihm keine Verlegenheit oder Ärger aus.
Rapunzel bezieht sie von einem Biobauern aus der Toskana, mit dem Wenning seit vielen Jahren persönlich zusammenarbeitet.
Er achtet auch darauf, dass die Biobauern, die Rapunzel beliefern, nicht in Abhängigkeit geraten. Deshalb ist die Firma nie einziger Kunde.
“Produktionsbedingungen sind egal”
Im Gegensatz zu konventionellen Lebensmittelproduzenten bindet sich Rapunzel langfristig. Im Durchschnitt arbeiten die Allgäuer mit ihren Lieferanten zehn Jahre zusammen.
Wenning nimmt ein Glas Tomatensauce in die Hand. Das Saatgut für die Tomaten hat Rapunzel selbst hergestellt. Die Sauce ist dick, sie ist nicht zur Hälfte mit Wasser gestreckt.
„Wenn der Lieferant mal eine schlechte Ernte hat und weniger verkaufen kann, nehmen wir seine Tomaten trotzdem ab.“ Das gleiche sich aus, wenn der Bauer in einem anderen Jahr viel ernte und billiger liefern könne.
„Der konventionelle Erzeuger macht jedes Jahr Ausschreibungen und nimmt das billigste Angebot“, sagt Wenning. „Bei dieser kurzen Sicht zählt nur der Preis, nicht wo die Tomaten herkommen und wer sie unter welchen Bedingungen produziert.“
Transparente Lieferketten, der persönliche Kontakt zu den Produzenten, langfristige Verträge – in der konventionellen Lebensmittelindustrie scheint das selten der Fall zu sein, die Folgen sind bekannt.
Hungerlöhne in Biobetrieben
Doch nicht überall ist die Bio-Welt so heil wie bei Rapunzel. In Spanien, wo ein Großteil der deutschen Biotomaten und Gurken herkommt, herrschen teilweise unzumutbare Arbeitsbedingungen.
Häufig beschäftigen die Farmer illegale Einwanderer für Hungerlöhne. Rechte haben sie keine. Kritiker sprechen hier schon von “industrieller Bioproduktion”. Ist das der Preis dafür, dass Bio der Nische entwächst?
Die Zahlen bestätigen es – der Kunde greift immer häufiger zum Bioprodukt. Knapp acht Milliarden Euro hat die Branche im Jahr 2014 in Deutschland umgesetzt.
Weil der lokale Ökolandbau die Nachfrage nicht befriedigen kann, kam schon 2013 jeder zweite Bio-Apfel und jede zweite Bio-Möhre aus dem Ausland.
Zum Abschluss unserer kleinen Reise stellt sich also die Frage: Verrät der Bio-Boom die Ideale der Pioniere?
Nein, meint BÖLW-Sprecherin Joyce Moewius. “Ob Bio-Landwirte Öko-Ackerbau betreiben oder Bio-Tiere artgerecht halten, ist unabhängig davon, ob in kleinen oder großen Strukturen.”
Sie räumt ein, dass es einer kritische Auseinandersetzung bedürfe, da Marktwachstum und veränderte Produktionsbedingungen auch neue Herausforderungen bedeuten. “Unregelmäßigkeiten” müssten abgestellt werden. Trotzdem bleibe auch der Verbraucher beim Kauf von Bio-Produkten in der Verantwortung.
“Wer saisonal und regional kauft und weniger Fleisch verzehrt, der sorgt dafür, seinen ökologischen Fußabdruck zu verkleinern”, konstatiert Moewius.
Wer mit gutem Gewissen zubeißen will, solle den gesunden Menschenverstand einsetzen und sich fragen, ob man wirklich alles zu jeder Jahreszeit brauche, meint auch Andreas Wenning von Rapunzel.
“Wir haben die richtigen Preise”
Wenning lässt seine Tomatensauce wie eine Kostbarkeit in der Hand kreisen, dann stellt er sie ins Regal zurück. Sie kostet mit 3,79 Euro mehr als doppelt so viel wie eine Lidl-Sauce.
Ab einem bestimmten Preis könne man nicht sozial und nachhaltig produzieren. Davon ist Wenning überzeugt. Die Kosten seien woanders versteckt. Bei der Mästung der Tiere, den niedrigen Gehältern der Arbeiter, beim Raubbau an der Natur. „Wir haben keine höhere Preise, denn wir glauben, wir verkaufen unsere Produkte zum richtigen Preis.“
Zurück im Supermarkt. Drinnen glänzen Tomaten in grünen Plastikkisten.
Sie stammen aus dem trockenen Südspanien. Um sie zu bewässern, hat man das knappe Grundwasser energieintensiv aus dem Boden gepumpt. In der Auslage über den Tomaten steht ein Schild. Darauf steht: „Günstige Preise haben immer Saison“.
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